Es ist bereits einige Jahre her, aber in der Zeitrechnung der langen und interessanten schottischen Geschichte nur ein Wimpernschlag.
Was würde wohl in Deutschland passieren, wenn ein Seehund in ein fischreiches Süßgewässer vom Meer her eindringt und sich aus dem Füllhorn der Reichhaltigkeit monatelang bedient? Nach meiner Kenntnis (ich bin kein Angler, aber Fischer aus Norddeutschland mögen mich gerne belehren) wäre dies rein geographisch in Deutschland auch nicht möglich. Aber was wäre wenn? Ein Machtkampf zwischen Anglervereinen, Landratsamt, Politikern, Tierschutzverbänden und Aktivisten, wie auch immer geartet, würde entbrennen und kein Ende nehmen. So ähnlich hat es sich tatsächlich in Schottland zugetragen, aber mit einem, wenn auch etwas extravagantem, Happy End.
Bereits 2002 war ein Seehund über den Firth of Clyde, den River Clyde sowie den River Leven in die Hauptattraktion des Naherholungsgebiets von Glasgow eingedrungen, den Loch Lomond. Geographisch mit der schottischen Geographie weniger Vertraute mögen bitte einen Atlas oder Google Maps konsultieren, um die interessante Reiseroute nachzuvollziehen. Der wunderschön gelegene See mit seinen zahlreichen Inseln ist gesäumt mit Campingplätzen, Restaurants, kleinen Hotels und an sonnigen Wochenenden ziemlich overcrowded. Wer überdies bereits seinen Weg von den Western Highlands kommend in Richtung Auchentoshan gesucht hat, kommt hier über die A82 vorbei.
Unser Seehund namens André wilderte also lustig drauf los, bediente sich überreichlich an diesem gut gedeckten Büffet und dezimierte die Fischbestände, insbesondere im Mündungsbereich des River Leven, dermaßen drastisch, dass die Anglervereine nicht mehr auf ihre Kosten kamen und den Eindringling abschießen wollten. Der durch den Mitesser verursachte Schaden wurde damals auf viele Tausend Pfund beziffert. Und nun begann genau das, was weiter oben bereits beschrieben wurde. Heftige Proteste aus der Bevölkerung überlagerten sich mit Empörungen des schottischen Tierschutzbundes, des Zoos von Edinburgh, diversen Naturschutzorganisationen sowie mehreren Tauchvereinen und der britischen Meerestaucher-Lebensrettungsgesellschaft. Es wurde eine Allianz aus allen beteiligten Protestlern gebildet, die mehrere Versuche unternahm, den Seehund lebend zu fangen und wieder in seine Kolonie zu bringen. Sogar Netze mit Köderhering verschmähte der intelligente Meeresbewohner und kümmerte sich lieber um die leckeren Lachse und Forellen. Auch Ketten aus bis zu 40 Tauchern konnten das Tier nicht in die Enge treiben.
Die Retter verzweifelten, den Anglern stieg der Blutdruck und die Touristen strömten, um den gefräßigen Räuber bei der Arbeit zu bestaunen. Und nun zeigte sich, was die skurrilen Schotten so liebenswert macht und in Deutschland niemals möglich gewesen wäre: der Anglerverein gab schließlich nach und stellte André am 21. April 2003 einen Anglerschein mitsamt Passfoto aus, der bis zum 31. Oktober 2003 gültig war. Ob André den Schein jemals bei sich trug ist leider nicht überliefert. Aber sämtliche Retter konnten wieder beruhigt nach Hause fahren und die Angler stiegen vermutlich vorübergehend auf Angus Beef um. Den letzten Beweis seines hohen IQ erbrachte der Seehund, als er vor Ablauf der Erlaubnis den Loch Lomond verließ und über den River Leven, nur 150 Meter vorbei an der Loch Lomond Distillery, wieder zu seinen Jagdgründen schwamm. Keine Legende, kein Mythos, sondern eine wahre Anekdote.
Foto: Wikipedia | User Colin | https://commons.wikimedia.org/wiki/User:Colin